Resilienz gilt seit neuem als „das Konzept“, um mit der rasanten Entwicklung der Digitalisierung auf organisatorischer aber auch persönliche Ebene Schritt halten zu können. Doch was wir heute als „das neue Konzept“ in unzähligen Büchern und Fachjournalen finden, zeigt sich bei genauerer Betrachtung als eine uralte dem Menschen innewohnende Veranlagung, die wir aber leider verkümmern lassen. Resilienz ist die Kraft des immer wieder Aufstehens, des Loslassens und so alt wie der Mensch selbst. Ursprünglich aus der Physik kommend, bezeichnet der Begriff dort die Fähigkeiten eines Werkstoffes, Druck von außen aufzunehmen, sich verformen zu lassen um anschließend wieder in die ursprüngliche Form zurück zu finden.
Vergleichen wir als Werkstoff einen Badeschwamm mit einer Getränkedose, so wird uns direkt und unmittelbar klar, was es mit dieser Fähigkeit auf sich hat. Drücke ich den Badeschwamm, setze oder stelle ich mich darauf, so verformt sich dieser zwar, aber nur solange der Druck von außen anhält. Danach geht er sofort wieder in seine ursprüngliche Form zurück. Ich denke ich brauche nicht näher zu erklären, was passieren wird, wenn ich mich auf eine leere Getränkedose setze, mit meinem Fuß drauf trete oder ich sie auch nur mit meiner Hand drücke. Ich würde sie zerdrücken und sie würde in dieser Form bleiben – also ein geringes Maß an Resilienz darstellen.
In der Psychologie wurde der Begriff vor allem durch eine Forschungsarbeit der amerikanischen Psychologin Amy Werner bekannt. Werner beobachtete vier Jahre lang alle Kinder, die auf der Insel Kauai im Jahre 1955 geboren wurden. Dabei erhob sie unterschiedlichste Parameter, an insgesamt sechs Messzeitpunkten. Besonderes Augenmerk galt den 201 Kindern, welche bereits bei ihrer Geburt einem erhöhten Entwicklungsrisiko ausgesetzt waren. Es waren Kinder, die bereits durch ihre soziale Herkunft, durch chronische Armut der Eltern, geringem Bildungsniveau der Eltern, familiärer Disharmonie, aber auch Geburtskomplikationen einen schweren Lebensstart haten. Ein Dritel dieser Kinder entwickelte sich ohne jegliche Intervention der Forscher zu erfolgreichen Erwachsenen, die auch zum Zeitpunkt der letzten Messung im Alter von 40 Jahren noch zahlreiche Zukunftspläne hatten. Zwei Drittel entwickelten sich leider nicht so erfolgreich und wurden verhaltensaufällig und zum Teil auch kriminell. Die beiden wesentlichsten Faktoren, die Werner aber durch die Studie zeigen konnte waren, dass, auch wenn Menschen in vergleichbaren Umwelten unterschiedlich aufwachsen und sich unterschiedlich entwickeln, die dem Menschen innewohnende eigene Resilienz sich aber entwickeln lässt.
Die Kraft von Innen
Man könnte Resilienz also als eine Fähigkeit bezeichnen, die es uns ermöglicht von außen oder innen kommende Belastungen auszugleichen oder ertragen zu können ohne dabei Schaden zu nehmen. Es handelt sich also um keine Kraft, die uns in die Wiege gelegt wurde, sondern um eine Veranlagung, die in jedem von uns in unterschiedlichster Natur ausgeprägt ist und aktiv gestärkt werden kann. Seit es den Wissenschaftlern klargeworden ist, dass Menschen nicht unbedingt an Krisen zerbrechen, sondern auch an diesen wachsen können, wird versucht diese Kraft zu erforschen und zu fördern. Dass dies jedoch keine einfache Aufgabe darstellt, da die meisten Menschen diese Kraft, die Ihnen innewohnt, nicht beschreiben können, wurde mir während meines jahrelangen Kampfes gegen meinen eigenen Krebs bewusst.
An meinem 38. Geburtstag, unser Sohn Sebastian feierte gerade seinen zehnten, unsere Zwillinge Elisa und David ihren zweiten Geburtstag, bekam ich die Diagnose Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium. In den darauffolgenden fünf Jahren erkrankte ich zweimal an Krebs, erhielt 35 Strahlentherapien und mehrere intensive Chemotherapien. Dazwischen wurde mir die Leiste und zwei Mal der gesamte Bauchraum operiert, ein Stoma angelegt, in der Druckkammer der Brustkorb und später der Hals geöffnet, um alle Tumore bzw. Metastasen zu entfernen. In dieser Zeit lernte ich Schmerzen und Leid kennen, die ich, wenn ich heute zurückschaue, nie für möglich gehalten hätte. Am tiefsten Punkt angekommen, flehte ich innerlich nur noch darum, sterben zu dürfen.
Die Fähigkeit der Resilienz
Doch es kam ganz anders. Ich entdeckte in mir eine Krat, die es mir ermöglichte diese schwere Zeit unbeschadet über mich ergehen zu lassen. Ich denke, es wird Ihnen bereits klar sein, welche Krat ich in mir entdeckte. Es war die Fähigkeit immer wieder aufzustehen und weiterzugehen, die Höhen und Tiefen meiner Erkrankung anzunehmen und wieder loszulassen. Es war die Fähigkeit der Resilienz. Denn genau das meint Resilienz. Es geht nicht darum unbesiegbar zu werden, sondern das Leid, die Herausforderungen des Lebens anzunehmen und als Teil dieses Lebens anzuerkennen. Niemand, weder du, ich oder sonst wer, kann so hart zuschlagen wie das Leben selbst. Es geht aber auch gar nicht darum, wie hart du zuschlagen kannst, sondern wie hart du vom Leben geschlagen werden kannst und trotzdem auf deinem Weg bleibst. Wie viel du einstecken kannst und trotzdem weitergehst. Ein alter Dialog zwischen einem Zen-Schüler und einem japanischen Zen-Meister beschreibt diese Fähigkeit für mich sehr trefend: „Meister, wie kann ich in diesem Leben am schnellsten meinen Weg gehen?“ „Geh zielstrebig immer deinen Weg entlang.“ „Aber, Meister, auf dem Weg sind so viele Hindernisse und Gefahren. Was, wenn ich stürze?“ „Steh auf und geh weiter.“ „Aber, Meister, was soll ich machen, wenn ich wieder stürze?“ „Steh auf und geh weiter.“ Ich denke kürzer und trefender kann man Resilienz nicht beschreiben. Sie fragen sich vielleicht: „Geht das? Ist das realistisch? Ist das machbar?“ Die Antwort auf diese Fragen ist ja, ja und nochmals ja. Zugegeben, es ist nicht einfach, und sie müssen etwas dazu beitragen um diese innere Krat entstehen zu lassen. Nach meiner Krebserkrankung wollte ich mich einer neuen Herausforderung stellen um diesen Lebensabschnitt abzuschließen.
An meinem Glückstag, es war ein Freitag der 13., brach ich auf zu einer Reise, die mich zwang meine Komfortzone zur Gänze zu verlassen und meine Resilienz täglich aufs Neue zu prüfen. Ich absolvierte den bekanntesten Pilgerweg Europas, den Camino Frances mit seinen 810 km, in nur 21 Tagen und suchte auf den Spuren des Apostels Jakobus Ruhe, Kraft und Klarheit, fand aber einen überfüllten Weg mit Touristen aus allen Ländern dieser Welt. Als Lehrer offenbarte mir jeder einzelne Tag dieser Reise die schönsten, aber auch herausforderndsten Seiten dieses Weges. Und so wie Menschen aus verschiedensten Ländern zur Reise am Jakobsweg aufbrechen, so begeben sich auch Stoma-PatientInnen auf eine Reise ins Unbekannte. Was wird mit mir geschehen, wie werde ich damit zurechtkommen, wo bekomme ich Unterstützung? Den Jakobsweg schaffst du mit der Fähigkeit der Resilienz, das Leben mit einem Stoma auch. Doch wie wird man resilient, wie kann man diese Fähigkeit ausbauen und erhöhen? Im Wahrnehmen, sprich im Erkennen der Herausforderung, liegt der erste Schritt. Ohne diesen Schritt, dem Erkennen, kann der zweite Schritt, das Annehmen, nicht folgen. Nur durch das Annehmen der Situation, so wie sie ist, habe ich die Möglichkeit ein Aushalten oder eine Veränderung einzuleiten. Resiliente Menschen haben einen Instinkt, Situationen richtig zu beurteilen. Gibt es eine Möglichkeit auf die Situation, das Problem, einzuwirken, muss ich das tun, um eine Veränderung herbeizuführen. Habe ich keine Möglichkeit auf die Situation, das Problem, einzuwirken, muss ich akzeptieren was ist.
Doch dafür braucht es Kraft, Energie – sprich Resilienz, denn eine Situation aushalten zu können verbraucht Energie. Neben dieser Energie braucht man als Stoma-PatientIn natürlich auch die richtige Versorgung in ausreichender Anzahl am Jakobsweg. Also gut planen, damit der Rucksack nicht zu schwer wird. Buen camino!