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Prof. Dr. Jutta Rump

23. April 2018

Amboss oder Hammer sein – soziale und digitale Transformation

Digitale Revolution und Mitarbeiter: Lerne zeitig klüger sein! Das riet schon Goethe. Und das ist auch die Empfehlung von Prof. Dr. Jutta Rump im Gespräch mit Marc Wagner. Unternehmen müssen New Work jetzt gestalten, wenn sie ihre Zukunft gestalten (und nicht von ihr überrollt werden) möchten.

Detecon: Frau Professor Rump, wie wirkt sich aus Ihrer Sicht die Digitalisierung auf die Gestaltung von Arbeit aus?

Prof. Dr. Jutta Rump: Ich glaube, dass alle manuellen und kognitiven Routinetätigkeiten auch in hochkomplexen Prozessen durch das Thema Digitalisierung beeinflusst, wenn nicht sogar substituiert werden. Viele Firmen investieren aktuell in diese neuen Technologien, um Kostenvorteile zu generieren. Das ist wie ein Naturprozess: Wasser kann man nicht aufhalten, es bahnt sich seinen Weg. Es wird negative und positive Auswirkungen geben. Wenn Mitarbeiter von negativen Beschäftigungseffekten betroffen sind, wird man sie auf neue Arbeitsfelder vorbereiten müssen. Das braucht Zeit. Daher sollten wir heute schon in diesen Big Pictures und integralen Szenarien denken, Alternativen bereithalten und mit den MA frühzeitig an sich daraus ergebenden Fragestellungen arbeiten. Wir werden sicher aber auch positive Beschäftigungseffekte erzielen: Wir erhalten Zeit geschenkt, wenn wir zehrende Routinetätigkeiten substituieren und an digitale Systeme delegieren. Wer Zeit geschenkt bekommt, kann diese klug investieren. So entstehen neue Aufgaben, Arbeitsfelder, neue Berufsfelder oder gar neue Geschäftsfelder.

Chancen oder Schaden, was überwiegt?

Eindeutig die Chancen! Als HR 4.0 müssen wir uns überlegen, wie wir eine neue, angemessenere, auch humanere Arbeitswelt gestalten können. Denn jetzt haben wir die Möglichkeit dazu. Wenn alles in Unordnung kommt und alles in seine Grundbausteine zerlegt wird, können wir – vorausgesetzt wir warten nicht einfach ab, sondern verhalten uns proaktiv – einwirken und alles so verändern, wie wir es uns immer schon gewünscht haben. Wir sollten diesen Umbruch als historische Chance betrachten, um diesen Gestaltungsauftrag mit all den Erkenntnissen, die wir gesammelt haben, zu kombinieren. Antizipieren und Handeln ist das Prinzip auf normativer, strategischer und operativer Ebene, wenn wir von Digitalisierung, von New Work reden.

Welche Auswirkung hat die Digitalisierung auf Bildung und Ausbildung? Ist es sinnvoll, weiterhin so stark zwischen Lernen und Arbeiten zu trennen: Kindergarten, Schule, weiterführende Schule, Universität? Dann der Berufseinstieg und zehn Jahre später ist das Wissen nicht mehr aktuell.

Sie haben recht, wir meinten stets, ab einer gewissen Bildungsstufe Experten zu sein, und waren überzeugt: „In einem bestimmten Bereich bin ich unentbehrlich!“ Dieses Selbstbild löst sich jedoch soeben in Luft auf. Denn Google weiß und mein Notebook kann tausend Mal mehr als ich. Was ist denn dann eigentlich noch mein besonderer Stellenwert und Wertschöpfungsbeitrag, mein USP? Was gibt mir Sicherheit in dieser unvorhersehbaren Arbeitswelt? Die Antwort darauf ist Bildung als Befähigung und die Grundbereitschaft zum lebenslangen Lernen und Umlernen. Heute herrscht eine wachsende Veränderungsgeschwindigkeit. Die Zyklen wechseln schnell, es ist aber gleichzeitig nebulös, was am Ende dabei rauskommt.

Was brauche ich für Kompetenzen, um in dieser Welt zurechtzukommen?

Ich denke, kritisches Fragen, Geistesgegenwart, Mut zum Ausprobieren, soziale und kulturelle Fähigkeiten, emotionale Intelligenz, Kreativität, Inspiration und Empathie sind entscheidend. Da können Algorithmen und KI nicht mithalten. Die digitale Welt basiert auf mathematischen Formeln. Das ist IT, Kalkulation und die Analyse großer Datenmengen. Alles, was mit Kombinatorik, Kognition und positivem Faktenwissen verbunden ist, werden künftig Maschinen erledigen. Aber meine soziale Kompetenz, die Fähigkeit, überraschend zu assoziieren, Stereotypen zu hinterfragen, gestalterisch auf die Welt einzuwirken und Muster zu brechen, das kann kein elektronisches System. Darin sehe ich das Besondere, das Alleinstellungsmerkmal eines Menschen in der digitalisierten Welt. Ich denke jedoch, dass unser Bildungs- und Weiterbildungssystem darauf aktuell nicht ausreichend vorbereitet ist.

Was bedeutet es dann für den betrieblichen Kontext, für die Organisationen?

Ein Betrieb darf nicht darauf warten, dass die Berufsschule ihm die MA entwickelt. Er sollte es selbst machen. Das tun bereits einige große Organisationen. Auch viele Mittelständer haben das erkannt und überlegen, wie sie das Curriculum anpassen, wie sie Methodik und Didaktik anpassen, den Raum anpassen, wie sie die Azubis schon früh in agile Strukturen reinbringen. Das gilt auch für Hochschulabsolventen. Und der Begriff ‘Weiterbildung’ scheint mir nicht ganz passend, nicht einmal beim Begriff ‘Personalentwicklung’ bin ich mir sicher, ob er passt. Für mich ist es eher etwas wie eine hochgradig individuelle Begleitung, ein Coaching. Es geht darum, den Menschen zu sehen mit seinen Stärken und Potentialen und diese gezielt zu fördern. Das Unternehmen sollte als Bildungs- und Entwicklungsarchitektur gesehen werden. Und Architektur meint den Raum, die Umgebung, die Art und Weise, wie wir arbeiten, das Ambiente, die Kultur usw. Agil heißt, in Bewegung zu bleiben, ohne die Balance zu verlieren, und das macht auch Employability aus.

Welche Rolle kommt HR beim Schaffen solcher Rahmenbedingungen zu?

Lernen heiß doch, ich nehme Daten und Informationen auf und verarbeite sie in meinem Gehirn. Ich denke schon, dass es Akteure braucht, die auf sehr professionelle Art und Weise „die Architektur“ schaffen, in der sich das alles vollzieht, was wir gerade beschrieben haben; nämlich die Agilität. Diese zu erhalten, zu fördern und auf neue Höhen zu bringen, ist Aufgabe von HR Coaches, die eine Art operativen Werkzeugkasten bereithalten und sagen: „Ich bin hier der Ansprechpartner“.

Also keine Standardprozesse mehr?

Exakt! Es ist nicht mehr der standardisierte Recruiting-Prozess oder Personalentwicklungsprozess und auch nicht der standardisierte Beurteilungsprozess. HR ist mehr, das sind Ansprechpartner für eine bestimmte Themenstellung. Sie bieten Unterstützung und Architektur. HR ist auch ‘Baumeister’ in dem Zusammenhang. Was sich standardisieren lässt, macht der Apparat, aber für das Wahrnehmen und Freisetzen der entscheidenden zehn Prozent brauchen Sie Fachkompetenz plus Intuition.

Sie kennen das Prinzip des Employee Experience Officers von Airbnb. Die fragmentierten Funktionen werden an einer Stelle wieder integral in den Blick genommen. Was halten Sie von dem Konzept?

Das ist gut. HR muss Core of Business sein. Fast alle steht und fällt mit der Belegschaft. Wenn wir über die digitale Transformation reden, dann reden wir doch nicht nur über Geschäftsmodelle und über Prozess- und Strukturinnovation bzw. über Technik, sondern vor allem auch über die Dimensionen der sozialen Transformation. Arbeiten 4.0, Arbeitswelt 4.0, Employee 4.0, Employment 4.0 – in den Netzwerkstrukturen ist das die Grundlogik. Wenn ich eine agile Organisationsform wähle, ist tatsächlich das Thema People Management zentral! HR ist CEO-Support, ohne CEO-Kompetenz sein zu können. Das heißt HR 4.0 muss eine eigene Stimme im Vorstand haben.

Ist das Thema CHRO in Deutschland nicht stark durch Betriebsräte und Mitbestimmung beeinflusst?

Es ist erst einmal so, dass das Mitbestimmungsrecht dazu geführt hat, dass in der Vergangenheit gerne auch Juristen als Head of HR genommen wurden. Doch Jura und Technik beißen sich nach meinem Eindruck. Im Prinzip brauchte man jemanden, der auch aus der Informatik kommen kann und sich gleichzeitig in dem HR-Thema wunderbar zurechtfindet, um diese Schnittstelle zu bilden.

Also ich hätte am liebsten eine Riesentruppe von Freelancern, die ich netzwerkmäßig zusammenschließe, die nach Bedarf eine Aufgabe bekommen, die aber in irgendeiner Form auch eine Absicherung haben, dass sie schwache Phasen ohne Auftrag überbrücken können. Sehen Sie da eine Rolle von Mitbestimmung? Wenn ja, welche?

Nun, in Deutschland können wir das Mitbestimmungsrecht nicht abschaffen. Es trägt auch zur Stabilität unserer Volkswirtschaft und zur Attraktivität des Standorts bei, gar keine Frage. Ich glaube auch, dass wir arbeitsrechtliche Mindeststandards benötigen, wenn wir in eine Welt der Agilität hineingehen, wenn wir über eine soziale und eine digitale Transformation mit allen oben skizzierten Konsequenzen reden. Aber das muss ein modularisiertes, individuelles, atmendes Regelwert, je nach Situation des Betriebes, aber auch je nach Situation des Teams und auch des Einzelnen in einem flexiblen Rahmen sein. Das ist, wie ich denke, die einzige Form, die funktioniert. Das bedeutet aber auch, dass der Gleichheitsgedanke nicht mehr funktioniert. Es ist häufig im höchsten Maße ungerecht, mit dem Gleichheitsgrundsatz zu agieren, wenn wir in diese unglaublich bewegliche Welt hineingehen, in der es nicht mehr ‘das’ Muster gibt. Darauf müssen wir eine Antwort finden. Das ist im Prinzip der große Prozess, über den wir uns im Sinne von Mitbestimmung 4.0 Gedanken machen müssen.

Es gibt das Phänomen Scheinselbstständigkeit und es gibt Firmen, die hochspezialisierte Freelancer verhindern, obwohl durch deren Einsatz enorme Effizienzvorteile generiert werden könnten. Ich habe das bei der Telekom selbst erlebt. Sind solche Reglementierungen nicht das Einfallstor für allerlei dubiose Grauzoneinheiten?

Aber, das ist genau der Punkt, da wird in der Tat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Da wird eine bestimmte problematische Gruppe, die es unbedingt zu schützen gilt, als Orientierungsrahmen genommen, und darauf werden alle anderen projiziert. Und das ist eben nicht mehr möglich. So gesehen muss ein Diskurs stattfinden, wie man die Bedingungen und auch unsere Gesetze anpasst. Das ist aber bei uns in Deutschland ein unglaublich zäher Prozess, es ist ein sehr emotionaler Prozess, der auch nicht ganz frei von Neid und Missgunst ist.

Wie könnte jetzt ein Unternehmen, das den ‘agilen’ Weg beschreitet, trotzdem dafür sorgen, dass dieses ‘Selbstorganisieren’ nicht doch zum Schaden der Mitarbeiter, zur Selbstausbeutung führt?

Ich glaube, dass man einige Voraussetzungen braucht: 1. Die Vertrauenskultur, 2. feste, verbindliche Kommunikations- und Kooperationsregeln, d.h. je agiler desto stabiler müssen Kommunikations- und Kooperationsregeln sein, 3. Ein Team, das aufeinander achtet, 4. Arbeitspakete und Zielvereinbarungen (hier kann man sehen ob tatsächlich jemand zur Selbstausbeutung neigt). Nicht jeder findet Gefallen an dieser Hierarchiefreiheit und Selbstbestimmtheit, es gibt auch Menschen, die finden, es sei in einer Welt, die sowieso unglaublich in Bewegung ist, sogar entlastend, in Strukturen zu arbeiten, die für uns starr, aber für sie sicher und verlässlich sind. Und machen wir uns bitte nichts vor: New Work bietet diese Strukturen nur bedingt.

Beobachten Sie, dass auch auf betrieblich-organisatorischer Ebene das Pendel langsam wieder beginnt zurückzuschwingen? Dass man sagt, alles sei viel besser dort, wo es Hierarchien und klare Ordnungen wie beim Militär, bei der Feuerwehr oder im Krankenhaus gebe, denn dort könne schneller entschieden und gehandelt werden. Sehen Sie so etwas auch?

Den Eindruck habe ich auch, denn Menschen haben das Bedürfnis nach einer gewissen Orientierung, manche mehr, manche weniger. Ich würde deswegen jetzt nicht wieder das Einzelbüro einführen. Aber wir könnten uns überlegen, welche Faktoren Stabilität mit Agilität verbinden. Es gibt ja auch Fließgleichgewichte oder, wenn Sie ans Fahrradfahren denken, dynamische Stabilität. Wichtig sind, ich hatte es schon gesagt, beispielsweise Kommunikations- und Kooperationsregeln: Wie wir miteinander umgehen; eine Unternehmenskultur, die sich in der Art und Weise manifestiert, wie wir miteinander agieren. Ich glaube schon, dass man eine gewisse Wertorientierung durch Kommunikations-, Kooperations- und Teamregeln hinbekommen kann. Orientierung kann ein Familienfoto auf dem Schreibtisch geben. Dies kann aber auch die Strategie oder die Reputation eines Unternehmens leisten. – Im Prinzip geht es schon darum, dem menschlichen Bedürfnis nach Orientierung, Sicherheit und Stabilität zu entsprechen.

Identifikation und Orientierung sind mega-wichtige Punkte! Leadership-Persönlichkeiten zu etablieren, die teilweise mit einer sehr heroischen, fast schon abstrusen Vision nach vorne gehen: „Wir müssen die Welt retten, den Mars bevölkern“ etc. bekommen wir in Europa nicht hin. Warum ist das so?

Das hat etwas mit unserer Geschichte zu tun. Stellen Sie sich das mal vor, mit unserem geschichtlichen Hintergrund. Man kann durch Geschichte viel lernen. Wir haben doch ein Mindset und dieses Mindset ist sehr stark geprägt durch unsere Sozialisation. Und jetzt überlegen wir uns mal, wie unsere Sozialisation in den letzten 100 Jahren aussieht. Wir haben uns immer auf das fokussiert, was uns nicht in Gefahr bringt. Darüber hinaus halten wir uns gerne an hard facts. Ein Beispiel hierfür ist das jahrzehntelange Streben nach Prozessoptimierung. Nicht umsonst sind wir die Prozessweltmeister. Verfahren, Strukturen, Maschinen, Autos, Produkte, das hat genau etwas damit zu tun. Und wenn da jemand mit diesem heroischen Auftreten kommt, sind wir misstrauisch. Wenn da so ein Messias um die Ecke kommt, denken wir: „Wir haben schlechte Erfahrungen mit Messiassen gemacht“, – ganz unter uns [beide lachen].

Führt das nicht wieder zu Identität und Sozialisation?

Ja, und zu der Einsicht: Identität in einem Unternehmen zu schaffen, wird meistens nicht über eine Person gehen – aufgrund unseres Grundmisstrauens. Stattdessen brauchen wir eine Message, eine Vision.

Wo ist die Verbindung zur Digitalisierung?

Wenn wir mal ganz ehrlich sind, sitzen wir, was das Thema Digitalisierung betrifft, auf einem echten Goldberg. Überlegen wir, was Digitalisierung macht, und denken das komplett zu Ende, dann brauchen wir ja nicht nur die Software, sondern auch die Prozesse, auf die wir die Software übertragen können. Und dafür müssen wir durchdachte Prozesse haben, die exakt definiert, beschrieben, gewissermaßen standardisiert und optimiert sind. – Das ist die Plattform, das ist das Fundament. Das heißt, den Job haben wir gut gemacht. Und wenn Sie das miteinander ‘verheiraten’, nicht schlecht!

Ambidextrie könnte man sagen

Genau, Beidhändigkeit, Effizienz und Flexibilität, genau darum geht es! Aber wir denken immer noch sehr einhändig, und zwar überall auf der Welt. Die Amerikaner denken sehr stark in ihren Softwarelösungen, die sie dort haben. Wir denken immer noch in unseren Prozessketten und denken: „hier können wir ein bisschen was machen“. Und die Chinesen sind gerade grundsätzlich mit allem beschäftigt, die haben Industrie 1.0, 2.0., 3.0, 4.0 zur gleichen Zeit. Die darf man aber nie unterschätzen, die finden ihre Lösung. Die sind auch hungrig und da kommen einfach viele Tugenden zusammen. Jeder läuft gerade so seinen Weg, aber irgendwie immer noch alleine. – Doch es ist „die Verheiratung“, die Eng- oder Zusammenführung, die Kooperation, die „das Richtige“ ausmacht, und wenn die stattfindet, dann geht es richtig zur Sache! [lacht]

Prof. Dr. Jutta Rump

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