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30. Oktober 2015

Nina Ruge – der unbesiegbare Sommer in uns

Alles wird gut. Viele Menschen fühlen sich von diesen Worten berührt. Manche finden sie albern, einige finden sie blöd. Doch fasziniert mich bis heute, dass diese drei simplen Worte so viel Emotion zum Sprudeln brachten.

Alles wird gut – das ist ein Code, eine Formel, in der Hoffnung verschlüsselt ist, eine Sehnsucht vielleicht oder auch eine tiefe Überzeugung. Da wird etwas angerührt in uns, doch was ist es genau? Ein Code gehört natürlich entschlüsselt, und dafür habe ich bei Albert Camus geklaut und sein geniales Bild für den Titel meines Buches verwendet: „Mitten im tiefsten Winter entdeckte ich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt“. Mein Gott – wie wahr. Ganzkörper-Gänsehaut. Wenn wir dem nachspüren, was Camus in uns entfacht, dann fühlen wir: Ja, ja! Da ist was dran, da ‚wohnt‘ eine ganz große Kraft in mir. Allein dran zu denken, tut unendlich gut. Aber wie finde ich den Kontakt zu ihr, wie bohre ich sie an, diese warme Quelle, von der ich noch nicht mal weiß, wie ich sie benennen soll?

Genau darum geht es. Wieso fällt es uns so schwer, darüber zu sprechen, wonach wir uns im tiefsten Innern sehnen? Wieso ist es riskant für mich, die Journalistin, wenn ich über den „unbesiegbaren Sommer in uns“ schreibe? Ganz einfach. Wir bewegen uns damit in einem Bereich unseres Bewusstseins, der nicht durch Worte zu fassen ist. Unser Verstand kapituliert. Andere Baustelle. Wir haben’s ja nicht gelernt, uns bewusst mit dem zu verbinden, das in uns ‚wohnt‘. Abgesehen von tief religiösen Menschen natürlich. Denen gelingt das. Die Frage für alle anderen ist allerdings: Wie hole ich mir den tiefen Frieden, die heitere Gelassenheit, das Gefühl der Verbundenheit mit dem Leben (den unbesiegbaren Sommer also…) in meinen Alltag des 21. Jahrhunderts hinein? In eine Welt, die sich immer schneller verändert, in der alles unsicherer, manches gefährlicher, vieles radikaler wird?

Die Antwort ist komplex, und für jeden muss sie anders lauten. Eins allerdings gilt für uns alle: Üben, üben, üben – und das regelmäßig und für lange Zeit. Das Trainingsziel heißt: Den Verstand nutzen und schätzen – ihm aber nicht die Alleinherrschaft überlassen. Das heißt, ich übe mich, sämtliche überflüssigen Gedankenfetzen, das ‚innere Gebrabbel‘ an die Leine zu legen und sich damit zu öffnen für Glücksfähigkeit. Das „innere Gebrabbel“ und seine geheime Macht über uns sollten wir nicht unterschätzen. Mathew Killingsworth von der Harvard Universität wies nach, dass wir die Hälfte der Zeit, die wir im Wachzustand verbringen, geistig abwesend sind. Und das Fatale: Solche ‚Gedankenverlorenheit‘ macht unglücklich – und zwar dauerhaft.

Was hilft? Wie versetzen wir uns vom Abwesenheitsmodus in den Zustand geistiger Präsenz? Klar – da sind Yoga und Meditation – beides großartige Methoden. Doch haben sie tatsächlich die Kraft, uns einigermaßen gelassen durch unsere vollgestopften Tage zu tragen? Mir zumindest gelang das nicht. Also begann ich, mir viele kleine Trainingsmomente zu suchen, statt morgens und abends auf meinem Meditationskissen zu sitzen.

Es gilt ja zunächst, die lästigen Gedankenmoskitos zu verscheuchen, um sich bewusst dem zu nähern, was da an Wärme und Frieden in uns wohnt. DAS einheitliche Trainingsprogramm für Jedermann, das gibt es allerdings nicht. Jeder braucht seinen eigenen Instrumentenkasten.

Praxis-Vorschlag Nummer eins: Beginnen Sie mit der Erfahrung, wie stark Geistesabwesenheit unsere Wahrnehmung trübt. Machen Sie einen Spaziergang in einen Lieblingswinkel der Natur und nehmen sie einen nahen Menschen mit. Mein ‚Lieblingswinkel‘ ist ein kleiner Trampelpfad direkt um Ufer der Isar. Gehen Sie also zu zweit und beschreiben Sie sich gegenseitig, was Sie sehen, empfinden, hören, denken. Dann gehen Sie diesen Weg ein zweites Mal, mit demselben Menschen – und schweigen Sie. Schweigen Sie auch innen. Versuchen Sie, alles, was Ihnen da an Worten durch den Kopf schwirrt, abzustellen. Nichts benennen, weder Baum, Hund noch Zecke. Nur wahrnehmen, bewusst, mit allen Sinnen – ohne Worte. Das braucht Übung – funktioniert aber für Sekunden oder Minuten schon von Anfang an. Am Ende beschreiben Sie sich gegenseitig, was Sie empfunden haben. War die eine Erfahrung intensiver als die andere? Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit dürfte der Schweige-Spaziergang der deutlich intensivere gewesen sein. Die Farben waren tiefer, die Geräusche filigraner, Sie haben plötzlich feine Düfte wahrgenommen, und vor allem: Sie spürten eine tiefe, erfüllende Lebendigkeit.

Um diese Erfahrung geht es. Den Glücksfaktor „Leben“ in sich entdecken und zum dauerhaften Begleiter im Alltag zu machen und so mit Haut und Haaren im Jetzt zu landen, in achtsamer Präsenz.

Hunderte Möglichkeiten bieten sich über den Tag verstreut, für solche „Präsenzmomente“. Zum Beispiel das Warten: auf den Fahrstuhl, an der roten Ampel, an der Kasse des Supermarkts. Nicht ärgern, sondern bewusst innehalten und atmen! Tief einatmen – und beim Ausatmen zwei Worte erst denken – und dann fühlen: „Ich bin“. Klingt merkwürdig? Probieren! Vielleicht spüren Sie ihn, einen Hauch von tiefem Frieden.

Oder fragen Sie sich, welcher Song Ihnen schon immer so richtig unter die Haut gegangen ist. Machen Sie ihn zu Ihrem Steigbügel ins Jetzt, indem Sie ihn immer wieder bewusst und „gedankenfrei“ inhalieren.

Ich trainiere auch beim Zähneputzen! Nicht lachen – machen! Schauen Sie sich im Spiegel selbst in die Augen. Da sind dann die zwei Minuten richtig lang. Nicht denken! Nur schauen. Was fühlen Sie?

Oder träumen Sie sich für zwei Minuten an einen Ort, den Sie lieben. Nicht denken. Nur Bilder vorbei ziehen lassen. Nicht hudeln! Träumen sie sich intensiv in diesen Ort hinein. Was geschieht?

Keine Sorge, Übungen wie diese sind längst nicht so platt wie sie vielleicht scheinen. Besonders dann nicht, wenn Sie sie selbst für sich entwickelt haben. Miniatur-Trainingseinheiten für Achtsamkeit über den Tag verstreut sind wie Dünger für die Seele. Irgendwann nämlich wird er beginnen, uns Tag und Nacht zu begleiten, der innere Sommer in uns. Und das Schönste: Irgendwann fühlen wir, dass er unbesiegbar ist.

Mehr zu unserer Top100 Speakerin Nina Ruge, lesen Sie hier : www.nina-ruge.com

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