Mittelständische (Familien)Unternehmen wollen oftmals unbedingt die eigene Tradition erhalten, stehen jedoch gleichzeitig vor der Herausforderung, Innovation zu ermöglichen, ihre Kultur zu transformieren und ihre Arbeitgeberattraktivität zu steigern. Die heutige Geschäftswelt ist geprägt von enormer Geschwindigkeit und einem immer rascheren Wandel. Wir leben in einer ständigen sozialen und technologischen Evolution, die scheinbar unaufhaltbar an Fahrt gewinnt. Kundenbedürfnisse wechseln mit rasendem Tempo, Anforderungen von Mitarbeitenden verändern sich mit jeder Generation und der Kontext, in dem wir arbeiten, lieben und leben, ist geprägt von Pandemien, Kriegen und Hitzewellen. Früher war also alles besser. Oder doch nicht? Herzlich Willkommen in der „Zukunftserziehungsanstalt für familiengeführte Mittelständler“ (frei nach Thomas Glavinic).
Nostalgisch-romantisierte Gedanken an frühere Zeiten des Unternehmertums begleiten viele Manager und Managerinnen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Hier und Jetzt. Doch warum ist das so? Als Organisationen müssen wir diese Denkmuster aufbrechen und uns gemeinsam unseren möglichen Zukünften stellen. Wir müssen uns wagen, unsere zukünftige Innovationsfähigkeit in unserer Tradition zu suchen und zu finden. Gerade dann, wenn wir in einer Organisation arbeiten, die Tradition aufweist, was bei Familienunternehmen ja oft schon automatisch der Fall ist.
Es soll nochmals jemand schreiben, die deutschen Familienunternehmen hätten keine Innovationskraft. Das Gegenteil ist der Fall, nur sprechen will keiner drüber – Das Schweigen der Familienunternehmen. Wie würde man über Generationen hinweg am Markt bestehen, oft sogar die Märkte beherrschen und formen, wäre man nicht innovativ und würde sich ständig
an neue Marktgegebenheiten anpassen? Die Tradition entsteht also vielmehr durch kontinuierliche Innovation. Nun lassen Sie uns die Tradition nutzen, um auch wieder Innovationen hervorzubringen. Steigen wir mal etwas tiefer in die wissenschaftliche Literatur ein – keine Sorge, ich halte mich kurz. Was ist denn eigentlich Tradition? Ein Bestandteil von Tradition ist mit Sicherheit „past knowledge“, also tief in der Unternehmensgeschichte verwurzeltes Wissen. Wissen über bestimmte Verfahren, Produkte, Prozesse oder Regionen und Märkte. Die Wissenschaftler rund um Alfredo de Massis haben 2016 eine Studie zum Thema „Innovation Through Tradition“ publiziert, in welcher Sie auf den Prozess der Reinterpretation von „past knowledge“ eingehen und die Tradition als Erfolgskomponente für Innovation in Familienunternehmen ausloben. Die blindlinke Elimination von „Altem“ im Zuge von Innovation führt oftmals nur zu Erneuerung ohne Wertgenerierung. Doch bei Innovation geht es um das Kreieren von Wert. Wert für potentielle Kunden und Kundinnen, für Mitarbeiter:innen und Zulieferer. Die Mitberücksichtigung von bestehendem Wissen bei Innovationsaktivitäten kann daher als Wettbewerbsvorteil von traditions-, bzw. wissensreichen Unternehmen gesehen werden.
Der familiengeführte Europapark in Rust hat vor einiger Zeit ein Paradebeispiel für diese Fähigkeit hervorgebracht. Die Besucher:innen wollen höher, schneller, krasser – da wurde die etwas seichtere Achterbahnfahrt im „Alpenexpress“ den Ansprüchen nicht mehr gerecht und immer weniger besucht. Der Europapark entschied sich kurzerhand dazu, die Mitfahrenden jeweils mit einer Virtual Reality-Brille auszustatten, um sie während der Fahrt in eine virtuelle Realität eintauchen zu lassen. Hier sehen sie nun nicht mehr die Umgebung des Freizeitparks, sondern reiten auf Drachen über den Park oder fliegen durch dunkle Grotten– die Kurven, Fliehkräfte und den Fahrtwind, spürte man natürlich trotzdem noch. Die perfekte Immersion war geschaffen und innerhalb kürzester Zeit wurde die zuvor verschmähte, etwas in die Jahre gekommene Achterbahn zur meistbesuchten Attraktion des gesamten Angebots. Heute hat der Europapark das Konzept der „Coastiality“ in unterschiedlichsten Ausführungen implementiert und vertreibt es sogar extern in anderen Freizeitparks in ganz Europa. Innovation durch Tradition also. Jahrzehntelanges, über Generationen hinweg bestehendes und stetig gewachsenes „past knowledge“ im Bereich Achterbahn gepaart mit neuen Technologien (VR) ermöglicht neue Geschäftsfelder, neue Produkte, neue Dienstleistungen, neue Angebote – zusammenfassend: neuen Wert.
Voila.
Und da sagt nochmal einer Tradition und Innovation passt nicht zusammen.
Es gehört zusammen.