Es war einmal die Schulzeit. Nehmen wir an, Sie waren kein Mathegenie. Für Prozentrechnung mag es noch reichen, doch nun stehen Sie vor einer Kurvendiskussion. Ein Folgefehler schleicht sich ein. Seiner unbemerkt bringen Sie die Kurvendiskussion euphorisch zum Ende. Euphorisch? Ja, denn es ist die erste Kurvendiskussion, welche Sie ohne Hilfestellung bis zum Ende durchziehen und sich dessen, was sie da tun, absolut sicher sind. Das Prinzip haben Sie endlich verstanden. Doch was sagt Ihr Lehrer: Gut, gut, wenn der Folgefehler nicht wäre.
Oder ein anderes Beispiel: Kunstunterricht. Sie haben endlich den Pinselduktus van Goghs perfekt imitiert. Wahnsinn, so lange haben Sie daran gearbeitet und es endlich geschafft. Leider stimmen die Proportionen des Motivs nicht. 4,0 mehr ist das Ding nicht wert …
Ironischer Weise beschäftigt Sie dieser Misserfolg länger, als die Freude über die 1,0 in Bio oder Deutsch. Das können Sie einfach, das ist nicht so viel wert.
Schade, dass wir so erzogen wurden. Dass wir so aufgewachsen sind. Eine 1+ in unserem Lieblingsfach war nicht so viel wert wie eine 1+ in einem Fach, welches uns schwerfiel. Stimmt’s? Das heißt im Umkehrschluss, dass wir unsere Talente bisher nie voll ausgeschöpft und perfektioniert haben, weil wir stets damit beschäftigt waren, unsere Schwächen zu stärken. Nun stellen Sie sich einmal vor, dass das alle so machen. Dann sind wir alle in allem mäßig gut, mit geringen Differenzen. Kein Wunder, dass wir heutzutage keine Genies wie Chopin, Goethe oder Einstein feiern. Es wird Zeit, das zu ändern!
„Es ist besser, sich auf die Stärken zu konzentrieren, als sich mit den Schwächen ständig abzumühen. Schwächen lassen sich nicht in Stärken wandeln. Wer das versucht, der lässt seine wahren Talente verkümmern, der ermüdet und verhindert eines: wirkliche Leistung fernab vom Durchschnitt.“ (vgl. Lemper-Pychlau & Schneider-Blümchen, 2013)
Howard Gardner beschäftigte sich lange mit den Gaben der Menschen. Er etablierte zehn Grundintelligenzen: die sprachliche Intelligenz, die logisch-mathematische Intelligenz, die assoziativ-kreative Intelligenz, die räumliche Intelligenz, die musikalische Intelligenz, die körperlich-kinästhetische Intelligenz, die naturkundliche Intelligenz, die intrapersonale und die interpersonale Intelligenz sowie die spirituelle Intelligenz. Bei jedem Menschen sind in der Regel zwei dieser Intelligenzen besonders stark ausgeprägt, von Geburt an. Die Kombinationen und Stärkegrade sind dabei so individuell wie unser Fingerabdruck. Das heißt, im Grunde hätten wir schon von Geburt an für jedes noch so spezielle Anliegen einen ganz eigenen Fachmann.
„Wenn unsere zehn Grundintelligenzen die Tonleiter sind, dann sind unsere Talente die Akkorde, die wir darauf spielen. Doch bis eine Fähigkeit dann von uns als Stärke bezeichnet werden kann, müssen wir zunächst in der Lage sein, sie stetig und konsequent und nahezu perfekt durchzuführen. Das bedeutet, unsere Stärken sind ein vorhersagbarer Teil unserer Performance.“ (vgl. Christiani & Scheelen, 2008)
Soweit, so gut. Sie könnten nun also einen Intelligenztest machen, ihre Grundintelligenzen feststellen, den Job kündigen und einen perfekt passenden suchen. Schließlich fallen Ihnen Aufgaben im Bereich Ihrer Intelligenzen ja zu. Jein! Nicht so schnell!
Die Basis auf welcher ein Entwickeln und ein Erkennen der Stärken – welche sich aus den Intelligenzen und Talenten erst ergeben müssen – bauen, ist ein solides Selbstwertgefühl. Nur wenn Sie in der Lage sind, ein realitätsnahes Selbst von sich zu reflektieren und wissen, was Sie inspiriert und beeinflusst, können Sie sich Ihrer Stärken differenziert bewusst werden und diese gezielt weiter ausbauen.
Schritt #1 ist also, Ihr Selbstwertgefühl zu stärken und es zu trainieren wie einen Muskel. Dazu zählt zum Beispiel einmal ein Kompliment anzunehmen und genau zu hinterfragen. Seien Sie nicht bescheiden, lehnen positive Zuwendung nicht ab. Sondern hinterfragen Sie, wie es zu dem Kompliment kam und gelangen Sie so auf die Fährte Ihrer Talente.
Ein weiterer Indikator und somit Schritt #2 sind Ihre Werte.
„Natürlich besteht ein Zusammenhang zwischen Werten und Stärken: Wenn Ihnen eine Tätigkeit wichtig ist oder große Freude bereitet, also einem stark ausgeprägten Wert entspringt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie sich mit diesem Thema intensiv befassen. So entwickelt sich aus dem, was Ihnen Spaß macht, auch eine besondere Stärke.“(vgl. Christiani & Scheelen, 2008)
Nach Eduard Spranger existieren sechs Grundwerte: der theoretische, der ökonomische, der ästhetische, der soziale, der individualistische und der traditionelle Wert. Befragen Sie doch einmal Kollegen, Freunde oder Verwandte! Welche Werte sprechen Sie an?
Im dritten Schritt geht es ans Eingemachte: Daran, Ihre expliziten Stärken zu benennen.
Glauben Sie ruhig, es lohnt sich, nach seinen Stärken zu leben, denn das bedeutet:
… authentisch zu sein,
… sich zu bekennen,
… auf soliden Grund zu bauen,
… bei sich zu sein,
… sich permanent weiterzuentwickeln,
… die Freude des berühmten Flows zu erleben und
… seine Bestimmung zu kennen.
In meinem Seminar zu diesem Thema helfe ich Ihnen, ein detailliertes Bild von Ihrem Selbst zu bekommen, Ihre Motivatoren kennen zu lernen, Ihre Werte zu stärken und schließlich Ihre Stärken herauszuarbeiten. Anschließend entwickeln wir gemeinsam eine Strategie, diese alltäglich zu nutzen und damit/davon zu leben.
Doch für den Anfang empfehle ich folgende Fragen, welche Sie auch mit Freunden oder Vertrauten evaluieren sollten – vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei:
Wer sind Ihre Vorbilder und was bewundern Sie an ihnen?
Wen beneiden Sie und worum?
Was schätzen Vertrauenspersonen an Ihnen besonders?
Wann waren Sie das letzte Mal richtig glücklich und warum?
Was ist Ihre eindrucksvollste Kindheitserinnerung?
Auf welche Talente waren Sie als Kind besonders stolz?
Was tun Sie als erstes in einer Krisensituation?
Was mögen Sie an sich?
Worauf warten Sie? Begraben Sie Ihre Kurvendiskussion ein für alle Mal und widmen Sie sich wieder Ihrer 1,0 in Bio – sinnbildlich natürlich. Stärken machen glücklich!