Artikel von Patrick Rottler, Sprachprofiler am Institut für forensische Textanalyse
Alarm Rot in der Geschäftsleitung. Ralf Rasend knallt einen Stapel Unterlagen auf den Tisch und brüllt: “So eine Scheiße darf nie wieder passieren!”.
Er sieht in zwölf betretene Gesichter. Die Situation ist ernst! Jedem war klar, dass die Übernahme heikel werden würde. Selbst auf oberster Ebene hatte man lange über den Sinn und Unsinn dieses Schrittes gestritten. Am Ende gab es ein Machtwort aus dem Vorstand und man hatte sich auf eine abgestimmte Kommunikation nach Abschluss der ersten Verhandlungen verständigt. So lange sollte alles top-secret behandelt werden. Ralf Rasend zitiert aus dem Schreiben, das ihn am Vormittag über den zentralen Posteingang erreicht hatte:
“Alpha AG, Herrn Ralf Rasend, persönlich/vertraulich! Sie stehen kurz davor, den größten Fehler Ihrer bis dato so bilderbuchhaften “Karriere” zu machen. Den Kauf der Omega OHG werden Sie nicht “überleben”. Anstatt sich eine Spielwiese für Ihr Ego zu schaffen, sollten Sie besser das Kerngeschäft anpacken. (…) Man sieht auf den ersten Blick, dass die Zahlen geschönt, und Omega deutlich überbewertet ist. Da hat noch einmal jemand “die Braut hübsch gemacht”. Dadurch wird unsere Lage nicht besser, sondern immer ernster. Leider lassen Sie uns keine andere Möglichkeit, das Unternehmen, seine Mitarbeiter, und letztendlich auch Sie(!) zu schützen! Geben Sie Ihre diesbezüglichen Pläne besser auf, sonst sehen wir uns gezwungen, die in der Anlage befindliche Studie in Kürze der Belegschaft zugänglich zu machen. Der Schritt in die Medien ist dann auch nicht mehr weit. Und dann waren Sie die längste Zeit der strahlende Saubermann… (…) Damit ist dann wohl alles gesagt… Hochachtungsvoll, besorgte Mitarbeiter.”
Dem anonymen Schreiben beigefügt war die Kopie eines internen Dokumentes der Geschäftsentwicklung, in dem von der Stilllegung einer Produktion und der Streichung von 200 Stellen, nach der Fusion, ausgegangen wird.
Tatort Text – Wie Sprachprofiler anonyme Täter überführen
Der geschilderte Fall ist ein klassischer Einsatzbereich für die Sprachprofiler des Institutes für forensische Textanalyse. Ihr Auftrag lautet: Anonyme Täter überführen. Ihre Auftraggeber: Unternehmen, die “stille” Ermittlungen – ohne Staatsanwaltschaft – wünschen. Ihre wichtigste Aufgabe: Klarheit schaffen! Denn neben allen strategischen Herausforderungen, vor denen Ralf Rasend jetzt steht, wäre sein größtes Problem, einen nicht identifizierten Maulwurf in den eigenen Reihen zu wissen.
Anonyme Schreiben treten in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen auf. Die aus Illustrierten ausgeschnittenen und aufgeklebten bunten Buchstabentexte sind – und waren schon immer – die absolute Ausnahme. Jede andere Form ist tägliche Praxis: handgeschrieben oder gedruckt auf Papier, per E-Mail von anonymen ausländischen Servern aus, bis hin zu Textnachrichten auf dem Smartphone, deren Absender technisch nicht zurückverfolgt werden kann.
Briefe, wie im Fall der Alpha AG, sind immer auch Spurenträger und deshalb sorgfältig als Beweismittel zu sichern. Das Sichern von Fingerabdrücken, Faserspuren oder DNA-Anhaftungen sind klassische kriminalistische Ermittlungsansätze. Genau wie die Analyse des Papiers, des Schreibmittels, der Handschrift oder des Druckverfahrens.
Das Sprachprofiling erweitert alle herkömmlichen Ermittlungsansätze um einen weiteren, schlagkräftigen Ansatz: Die Texte werden auf sprachliche Muster untersucht, um den Täter zu überführen. Der Sprachprofiler vergleicht das anonyme Schreiben mit Textmaterial von möglichen Verdächtigen. Auf dieser Grundlage fertigt er ein vergleichendes Sprachgutachten zur Autorenbestimmung. Dabei analysiert er, ob ein Verdächtiger als Täter identifiziert oder entlastet werden kann. Sollte eine verdächtige Person als Täter in Frage kommen, bestimmt er den Grad der Wahrscheinlichkeit. Fehlen mögliche Verdächtige oder Vergleichstexte, bestimmt er anhand sprachlicher Merkmale ein Täterprofil.
Durch sprachwissenschaftliche Methoden können auch Täter überführt werden, die aus der Anonymität des Internets heraus bedrohen, verleumden oder erpressen. Genauso wie jene, die sich der klassischen Ermittlungsmethoden bewusst sind und deshalb absichtlich tarnen oder täuschen. Der Sprachprofiler hat einen großen Vorteil auf seiner Seite: Ein Täter, der sein Ziel erreichen will, muss immer kommunizieren!
Gibt es einen sprachlichen Fingerabdruck?
Sprache hat immer einen persönlichen Stil. Denn Sprache ist ein hochgradig schöpferischer Prozess. Bei der Wahl jedes einzelnen Wortes, jeder Einleitung, jeder Anrede, jeder Höflichkeitsform, jeder Zeitform, jeder Redewendung, jedes Satzzeichens, jeder Groß- und Kleinschreibung, jeder Aktiv- oder Passivkonstruktion, jeder Betonung und jeder Reihenfolge, jedes Haupt- und jedes Nebensatzes, muss der Akteur Entscheidungen treffen.
“Sie stehen kurz davor, den größten Fehler Ihrer bis dato so bilderbuchhaften “Karriere” zu machen.” Alleine diesen Satz hätte der Täter auf hundert verschiedene Arten und Weisen formulieren können. Hat er aber nicht. Er hat nicht formuliert: “Sie stehen kurz vor dem größten Fehler Ihres Lebens …”, er hat geschrieben “bis dato” und nicht “bis heute”, “bisher” oder “bislang”. Statt bei der Sache zu bleiben, hat er einen polemischen zweiten Halbsatz gewählt, und das Wort “Karriere” in Anführungszeichen gesetzt. Auch das hätte er nicht tun müssen.
Ein wesentlicher Aspekt des Sprachprofilings ist, dass wir unsere gesprochene Sprache, genau wie auch geschriebene Texte, zum größten Teil unbewusst bilden. Wir folgen dabei Mustern, die tief in uns verankert sind. Diese Muster entstehen, weil unsere Sprache von Anfang an durch unser soziales und kulturelles Umfeld geprägt wird. Beispielsweise durch unsere Eltern, die Familie, Freunde, Schule, den Beruf und nicht zuletzt durch unsere ganz individuellen persönlichen Interessen. Wir haben sie so verinnerlicht, dass wir sie bewusst nicht mehr wahrnehmen. Vielleicht haben auch Sie in Ihrem Umfeld Menschen, die bestimmte Formulierungen, wie zum Beispiel “haargenau”, “diesbezüglich” oder “explizit” so häufig verwenden, dass Sie sich fragen, ob dem anderen diese Auffälligkeit überhaupt wirklich bewusst ist?
Sprachmuster können im Idealfall nahezu so eindeutig und unverwechselbar wie ein gut lesbarer Fingerabdruck sein. Der Kriminalist muss bei der Spurensicherung genau wissen, wo das Suchen nach Fingerabdrücken Sinn macht. Während ein Laie auf der Tischplatte suchen würde, sucht ein Profi auch darunter. Genauso ist es bei der Textanalyse. Oft sind es die subtilen, auf den ersten Blick nicht sichtbaren Muster, die am Ende zum Täter führen. Der Kriminalist braucht für jede Oberfläche den richtigen Pinsel, das perfekte Pulver, die passende Folie und in schwierigen Fällen besonderes Licht oder Chemikalien. Beim Sichern hat er nur eine einzige Chance. Wenn er handwerklich einen winzigen Fehler macht, ist die Spur für immer verloren. Die Spuren, die der Sprachprofiler auswertet, sind robuster. Der Tattext ist dokumentiert, schwarz auf weiß, auf immer und ewig. Um Muster zu erkennen, genügt dem Textermittler eine gute Kopie. Der sprachliche Fingerabdruck hat gegenüber den Papillarlinien der Haut noch einen weiteren Vorteil: Er kann sehr viel mehr über den Täter aussagen als ein klassischer Fingerabdruck. Texte lassen zum Beispiel oft Rückschlüsse auf die Anzahl der Autoren, absichtliche Verstellungen, Muttersprache, regionale Herkunft, Altersgruppe, Geschlecht, Bildungsgrad, Sprachfertigkeit, und unter günstigen Umständen sogar über die Ausbildung und den Beruf des Autoren, zu. Bei der Erstellung eines Täterprofils kommen Datenbanken zum Einsatz, die Sprache und den Wortschatz fortlaufend wissenschaftlich dokumentieren. Beispielsweise die Wortdatenbank der Universität Bonn, die Wortschatz-Datenbank der Universität Leipzig, der Korpus des Instituts für Deutsche Sprache oder das digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts. Täterprofile können immer dann besonders wichtige Ermittlungsansätze bieten, wenn im ersten Moment Verdächtige fehlen. Der Sprachprofiler steht jedoch vor einer Herausforderung, die der Kriminalist bei der technischen Spurensicherung nicht kennt. Fingerabdrücke sind im Wesentlichen unveränderlich. Sie können sich durch Verletzungen, wie zum Beispiel Kratzer oder Schnitte, verändern. Das Muster darunter bleibt in der Regel erhalten. Der Textermittler weiß, dass Sprache stetigen Veränderungen unterliegt oder wenigstens unterliegen kann. Diesen Umstand berücksichtigt er bei der Bewertung seiner Vergleichstexte. Genauso wie allgemein sehr häufig vorkommende oder versehentliche Fehler. Deshalb ist der Begriff sprachlicher Fingerabdruck auch eher als Metapher zu verstehen.
Täter, die im Text bewusst tarnen und täuschen
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Wie es weiter geht, erfahren Sie im 2 Teil.
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