Wir wissen: In der VUKA-Welt lösen flexible Rollen statische Stellen ab, geteilte Führung wird durch individuelle Führung ersetzt, Selbstorganisation tritt an die Stelle von Fremdorganisation. Doch: Dieses kognitive Wissen alleine reicht nicht aus, um entsprechend zu handeln. Für Menschen, die in klassischen, hierarchisch geprägten Unternehmen groß geworden sind, ist es ein mentaler Kraftakt, agile Routinen zu entwickeln.
„Warum soll ich meinen Chef fragen, wenn ich jemanden kenne, der Ahnung hat?“
Wir wissen: In der VUKA-Welt lösen flexible Rollen statische Stellen ab, geteilte Führung wird durch individuelle Führung ersetzt, Selbstorganisation tritt an die Stelle von Fremdorganisation. Doch: Dieses kognitive Wissen alleine reicht nicht aus, um entsprechend zu handeln. Für Menschen, die in klassischen, hierarchisch geprägten Unternehmen groß geworden sind, ist es ein mentaler Kraftakt, agile Routinen zu entwickeln. Ralph Goldschmidt, geboren 1963, diplomierter Volkswirt und Sportwissenschaftler, Unternehmer, Trainer, Coach und leidenschaftlicher Redner, gibt im Interview einen Ausblick auf notwendige Veränderungen in der Zusammenarbeit und darauf, wie wir diesen Wandel trotz aller inneren Widerstände bewältigen können.
Herr Goldschmidt, welche Formen der Zusammenarbeit sind am besten geeignet, um der steigenden Komplexität und Dynamik der VUKA-Welt am wirkungsvollsten entgegenzutreten?
Die Unternehmen sind heute größtenteils noch so organisiert wie vor 100 Jahren. Kurz gesagt: Oben wird gedacht, unten wird gemacht. Das war auch lange sinnvoll. Aber die Frage ist, ob diese
Linienhierarchie auch heute und in Zukunft noch funktionieren wird. Vor allem vor dem Hintergrund der immer komplexeren Anforderungen, Produkte usw. Die Antwort lautet: eher nicht. Warum? Weil die Linienhierarchie mit Komplexität nicht umgehen kann. Die Berichtslinien verlaufen über verschiedene Hierarchieebenen hinweg nach oben, Entscheidungen fallen langsam, zum Teil gar nicht, und manchmal sitzen Personen in höheren Ebenen, die teilweise nicht verstehen, worum es eigentlich geht. Ein erfahrener Außendienstmitarbeiter, der seine Kunden kennt, weiß wohl am besten, was diese wünschen. Mitarbeiter in der Forschung und Entwicklung wissen von ihrer Aufgabe sicher mehr, als ein Betriebswirt in der Führungsetage. Aber Entscheidungen werden immer noch woanders getroffen. Eine Frage, die mir ein Auszubildender nach einer Veranstaltung in einem Unternehmen gestellt hat, bringt die Problematik schön auf den Punkt: „Warum soll ich denn den Chef fragen, wenn ich jemanden kenne, der Ahnung hat?“ Im Grunde brauchen wir also ein neues organisatorisches Betriebssystem, um mit der Komplexität zurechtzukommen. Dabei wird es auch in Zukunft Hierarchien geben, aber das sind dann eher Kreis- oder Teamhierarchien. Selbstorganisierte Netzwerke, wo organisierte und spontane Kontakte geknüpft werden können und in denen nicht mehr klassische Führungskräfte das Sagen haben, sondern diejenigen, die in den Themen wirklich drin sind.
Inwiefern muss sich die Rolle des Einzelnen in einem Unternehmen ändern, um die Herausforderungen der VUKA-Welt erfolgreich zu meistern?
Klassische Führungskräfte müssen sich viel mehr in den Dienst der Teams stellen, sich zurücknehmen, Entscheidungskompetenzen abgeben und Rahmen schaffen, in denen die Teams
eigenverantwortlich handeln und auch entscheiden können. Das wird sicher nicht von heute auf morgen gehen. Denn diejenigen Führungskräfte, die beispielsweise in den 80er oder 90er Jahren Aber insbesondere die Digitalisierung in ihrer ganzen Komplexität erfordert ein ganz anderes Wissen als das, was wir uns in den letzten zwanzig, dreißig Jahren angeeignet haben. Daher ist es notwendig, ein viel stärkeres Vertrauen in die Mitarbeiter und ihre Kompetenzen zu haben als heute. sozialisiert worden sind, sich die entsprechenden Positionen erarbeitet haben und im Grunde nichts anderes kennen als Linienhierarchien, werden sich damit sehr schwertun. Aber insbesondere die Digitalisierung in ihrer ganzen Komplexität erfordert ein ganz anderes Wissen als das, was wir uns in den letzten zwanzig, dreißig Jahren angeeignet haben. Daher ist es notwendig, ein viel stärkeres Vertrauen in die Mitarbeiter und ihre Kompetenzen zu haben als heute. Und seit Niklas Luhmann wissen wir: Vertrauen reduziert Komplexität. Für alle, die wir heute nicht als Führungskraft ansehen, bedeutet das, dass sie sich selbst mehr einbringen müssen. Sie müssen mehr mitdenken, müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und ihre fachlichen Kompetenzen zum Strahlen zu bringen. Und sie müssen den Mut haben, sich auch als Nicht-Führungskraft in einem Projekt auf der Basis ihres fachlichen Wissens gegenüber Vorgesetzten durchzusetzen und im Zweifel auch für ihre Entscheidungen gerade zu stehen. Dieses sich Einbringen wird in Zukunft viel stärker erwartet werden.
Welchen Eindruck haben Sie aus Ihren Erfahrungen als Redner in Unternehmen und ausGesprächen mit den Mitarbeitern? Sind die Betriebe hierzulande hinsichtlich der Reorganisation ihrer Hierarchien auf einem guten Weg?
Der Wille, etwas zu tun und sich neuen Realitäten anzupassen, ist durchaus vorhanden. Aber es geht im Moment noch sehr, sehr langsam voran. Das kann ich aber auch verstehen. Diese grundlegende Veränderungsbereitschaft, die nötig ist, um sich wirklich auf komplett neue Arbeitsund Organisationsformen einzulassen, kennen Menschen nicht. Und es gibt auch kein Vorbild, an dem man sich orientieren könnte. Es gibt den schönen Satz: Der einzige Mensch, der sich nach Veränderung sehnt, ist ein Säugling in vollgeschissenen Windeln. Wir Menschen sind evolutionär so geprägt. Bei Veränderungen schauen wir erst einmal, wo mögliche Gefahren lauern. Innere Widerstände müssen überwunden werden. Und wenn man sich dazu durchgerungen hat, eine kleine Veränderung umzusetzen, dann ist man schnell der Meinung, das wäre der ganz große Wurf. Aber wenn ich mich umgucke und sehe, wie schnell sich neue digitale Technologien in verschiedensten Bereichen breitmachen, folgt die Erkenntnis: Das geht alles viel zu langsam.
Wie kann der Wandel gelingen?
Trotz der eben genannten Furcht vor der Veränderung, ist der grundlegende Faktor die Veränderungsbereitschaft. Und das gilt nicht nur für eine Organisation, sondern für jeden Einzelnen. Laut TU München treibt aber nur jeder fünfte Mitarbeiter die notwendigen Veränderungsprozesse voran, jeder zweite dagegen gilt als Bremser. Wie eben schon gesagt, ist die Furcht vor Veränderung ganz natürlich und man muss diese auch ernst nehmen. Gleichzeitig aber würde es helfen, wenn man sich selbst bewusst die Frage stellt: Was könnte mir der Wandel persönlich bringen und welche Vorteile kann ich für mich persönlich aus ihm ziehen? Die Antworten können dabei ganz unterschiedlich ausfallen. Der eine sieht sich wettbewerbsfähiger, der andere sieht die Chance auf ein flexibleres Arbeitsleben mit positiven Begleiterscheinungen für das Privatleben und ein Dritter findet Gefallen daran, Neues zu lernen und sich persönlich weiterzuentwickeln. Wichtig ist, sich die Chancen immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Denn wenn man das tut, wird man mit der Zeit feststellen, dass die Furcht weiter in den Hintergrund gerät.