Chinas Automarkt ist der größte weltweit – und er wächst weiter. Nun hat es sich das Reich der Mitte auf die Fahnen geschrieben, der E-Mobilität zum Siegeszug verhelfen. Kann das gelingen und die deutsche Autoindustrie einpacken
„Es irrt der Mensch, solange er strebt.“ Dieses Faust-Zitat trifft passgenau als Bewertung auf die Berichte der automobilen Tages- und Fachpresse rund um die Automesse Shanghai im Frühjahr. Von „voll auf Angriff“ war da etwa die Rede oder auch davon, dass „wer weltweit erfolgreich sein will, hier glänzen muss“.
Ist China also der neue Jungbrunnen der Autowelt, aus dem die Visionen und Volumen der automobilen Zukunft sprudeln? In China soll das Auto von morgen neu erfunden werden – nicht mehr in Deutschland. Karl Benz und Gottfried Daimler, Erfinder und Innovatoren, haben ausgedient. China verändert die Welt?
Zehn Giga-Factories nötig
Nach Schätzungen von universitären Auto-Instituten sollen bis 2025 in China jährlich zehn Millionen sogenannter New Energy Vehicles (New) als Batterieautos oder Plug-In-Hybride verkauft werden. Rechnet man noch in vorsichtiger Schätzung die Verkaufspläne von Tesla, VW, Audi, BMW, Daimler und den anderen deutschen und US-amerikanischen Herstellern hinzu, so kommt man bis 2025 auf ein globales Verkaufsvolumen von etwa 28 bis 30 Millionen Elektroautos.
Als Ökonom sei die Frage erlaubt: Wie und wo sollen die produziert werden? Um 30 Millionen E-Autos mit Batterien zu betreiben, braucht die Welt rund zehn Giga-Factories von der Dimension, die Elon Musk gerade in Nevada hochzieht.
Von Wasser und Wein
Und woher kommen die Silizium-Rohstoffe und die Energie zum Bau der Batteriezellen und zum Betrieb der Welt-E-Auto-Flotte? Ich weiß, manche Ökonomen sind schlimme Leute, schütten immer wieder Wasser in den Wein der schönen heilen Welt.
Fakt ist: Die automobile Musik für Volumen und Beschäftigung spielt in Zukunft in China. 25 Millionen Neuwagenkäufer jährlich, ein Drittel des Weltmarktes, können sich nicht irren! Längst ist China für VW und Audi, BMW und Daimler der größte und zugleich dynamischste Absatzmarkt geworden. Dort findet noch echtes Wachstum statt, nicht nur die Deckung von Ersatzbedarf.
Keine Frage: Die Shanghai Auto Show hat sich innerhalb von 17 Jahren zur bedeutendsten Messe weltweit entwickelt. Sie ist dabei, der Internationalen Automobilmesse (IAA) in Frankfurt den Rang abzulaufen. Während in Shanghai die Ausstellungsfläche mit zweistelligen Zuwachsraten expandiert, verzeichnet der VDA für seine diesjährige IAA bereits ein Dutzend Absagen namhafter Autohersteller und Zulieferer.
Wo ist der Gründergeist?
Die deutsche Autojournaille ist beeindruckt. Schon in der Vergangenheit hatte man sich angewöhnt, der deutschen Autoindustrie Verschlafenheit bei der E-Mobilität und Abgasbetrug vorzuwerfen und keine Visionen von künftiger Mobilität zu haben.
Während auf der Auto China Aufbruchsstimmung und Gründergeist herrschten und völlig neue Autofirmen wie Shiitake-Pilze aus dem Boden der Shanghai Automesse sprössen, beispielsweise Nio oder Lynk, herrsche auf der IAA 2017 in Frankfurt Kleinmut und Tristesse. Wenige Monate vor dem Start haben neun Hersteller abgesagt: Alfa Romeo, Fiat, Jeep, Peugeot, DS, Nissan, Infiniti, Mitsubishi und Volvo. Die Automesse in Shanghai verzeichnete dagegen 2000 Hersteller und 1500 ausgestellte Modelle. Das ist für den VDA zwar schmerzlich, aber zu verkraften, denn hinter allen Absagen steht neben Kosteneinsparungen vor allem das Eingeständnis, dass man in den gesättigten westlichen Märkten dem verwöhnten Publikum nicht Neues zu bieten hat.
Anders in China. Die Wahrheit ist: Die chinesische Autoindustrie hat zwar mit 1,3 Milliarden Menschen den Markt, aber noch weniger Visionen als die vielgescholtenen deutschen Hersteller auf der kommenden IAA. Zum Beleg nur zwei Beispiele zu den chinesischen Start-ups Lynk und Nio und deren hochgelobter Prise chinesischen Gründergeistes: Lynk ist die chinesische Schwestermarke von Volvo, beide gehören dem chinesischen Autoriesen Geely.
Das von Lynk in Shanghai präsentierte 03 Concept Car zielt mit E-Antrieb und modernster Vernetzung natürlich auf den europäischen Markt – und ist eine Technik- und Design-Blaupause des kommenden Volvo S40. Es steht auf der gleichen CMA-Plattform, auf der auch der nächste Volvo S40 und V40 stehen werden. Gute alte schwedische beziehungsweise europäische Ingenieur-Wertarbeit also.
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Noch krasser ist der Widerspruch zwischen Schein und Sein beim Newcomer Nio: Elf Modelle (!) präsentiert Nio in Shanghai. Neben dem Formel-E-Rennwagen zeigt Nio auch den EP9, das nach eigenen Angaben schnellste Elektroauto auf dem Nürburgring. Vom Supersportwagen werden zehn Stück gebaut. Stückpreis: 1,4 Millionen Euro. Nicht ganz so exklusiv ist der Nio ES8.
Visionen? Fehlanzeige
Noch ist das SUV eine Studie, der Siebensitzer soll aber 2019 mit Allradantrieb und Alu-Chassis auf den Markt kommen. Der über fünf Meter lange ES8 wird von zwei Elektromotoren angetrieben. Die Leistungsdaten verrät Nio noch nicht, auch zum Preis gibt es noch keine Infos. Auch bei Nio werden die Autos im Design und der technischen Entwicklung von einer zusammengekauften internationalen Crew auf die Beine gestellt. So viel zu den chinesischen Visionen. Die Visionen für technische Entwicklungen und Design stammen alle aus dem Ausland, USA und Europa, das Kapital und die Fabrik stammen aus China.
Und das Gros der über 200 chinesischen No-Name-Autohersteller in Shanghai? Das bietet Billigautos meist für den ländlichen Raum mit E-Antrieb, deren Anschaffung bis 2020 staatlich hoch subventioniert wird und die auf keinen Fall weltmarkttauglich sind. Das Design ist so, dass zumindest die deutsche Autopresse Abstand genommen hat, die Bilder ihren Lesern zu zumuten.
Was lehrt uns das? Von wegen die deutsche Autoindustrie habe keine Visionen; die Hersteller, vor allem aber die deutschen Zulieferer quellen über davon! Nach einer Ifo-Studie sind deutsche Hersteller und Zulieferer bei alternativen Antrieben technologisch internationaler Spitzenreiter. Jedes dritte Patent im Bereich Elektromobilität und Hybridantrieb stammt aus Deutschland!
Allerdings: Deutsche Autobauer haben 130 Jahre Automobilerfahrung, sie kennen die Gesetze der Physik, der Mechanik und der Chemie sehr genau und sind daher auch Realisten – wenn auch inzwischen ohne Krawatte und in Sneakers.
Ist die Autoindustrie China ob ihrer Visionen zu fürchten? Nein! Umgekehrt wird ein Schuh draus: Chinesische Autos sind zum Fürchten.
[Artikel – NTV – Juni,2017-Helmut Becker]