Thomas D. Zweifel über den Tod von einem Top-Manager
Martin Senn war unser Nachbar in einem Vorort Zürichs; er lebte mit seiner Familie ein paar Meter von meinem Haus (die Zürich Versicherung war ein Kunde, und er war zu einem Anlass eingeladen, an dem ich moderierte, und lehnte kurz zuvor dankend ab), deshalb macht sein Selbstmord Ende Mai doppelt betroffen.
Der ehemalige Zürich CEO und Top-Manager erschoss sich Berichten zufolge in Klosters, im Ferienhaus seiner Familie. Er war 59 Jahre alt.
Noch trauriger und beunruhigender: Martin Senn ist bereits der dritte Schweizer Top-Manager in drei Jahren, der sein eigenes Leben genommen hat. Er tritt in die Fußstapfen des ehemaligen Zurich-Finanzchefs Pierre Wauthier, der sich im Jahr 2013 tötete und in seinem Abschiedsbrief dem damaligen Vorsitzenden des Unternehmens Joe Ackermann vorwarf, ein unerträglich stressgeprägtes Arbeitsumfeld zu fördern und ihn persönlich unter “ungebührlichen Druck” zu setzen.
Ackermann trat daraufhin zurück, wies jedoch alle Anschuldigungen zurück und lehnte jede Verantwortung für Wauthier Tod ab. Eine interne Prüfung unter der Aufsicht der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht befand später, das Zürich Top-Management treffe keine Schuld; doch Wauthiers Witwe kritisierte diesen Befund Anfang 2014 in der jährlichen Zurich-Generalversammlung.
Fabienne Wauthier griff die Führungskräfte des Unternehmens, nicht zuletzt auch Martin Senn, hart an: Das Unternehmen habe unrechtmässig versucht, der Zuständigkeit für den Tod ihres Mannes auszuweichen: „Die Art und Weise, wie Sie mit Pierres Suizid umgegangen sind, ist ein deutliches Zeichen, dass das Ablehnen von Verantwortung Teil der Unternehmenskultur von Zurich bleibt und ist.“
An derselben GV sagte Martin Senn: „Die Trauer und den Schock, mit denen wir den Selbstmord unseres Kollegen Pierre Wauthier erlebten, war enorm.“ Und jetzt, drei Monate, nachdem Mario Greco, ehemaliger CEO von Generali und ebenfalls ehemaliger Zurich Manager, Senn als Zurich CEO ablöste, hat ihn das gleiche tragische Ende getroffen; erneut erleben wir Trauer und Schock.
Dann war da Carsten Schloter, der joviale und charismatische CEO von Swisscom, mit 20.000 Mitarbeitern die größte Telekom der Schweiz, der im Sommer 2013 jegliche Kommunikation unterband. Seine Voicemail-Box füllte sich mit betroffenen Anfragen seiner Familie, doch er liess alle Anrufe unbeantwortet. Schließlich verließ seine Mutter eine ungewöhnliche Nachricht: „Wenn du nicht antwortest, stehen wir am Samstag vor deiner Tür!“
Schloter rief sofort zurück und sagte seiner Mutter in leichtem Tonfall, sie müsse nicht kommen, es sei alles in Ordnung. Ja, da sei etwas, was ihn störe, aber er wollte nicht sagen, was es war. Er bedeutete nur, es habe nichts mit seiner Arbeit zu tun.
Ein paar Tage später war Carsten Schloter tot. Seine Putzfrau fand ihn. Erhängt.
Schließlich, wenn wir ein weiteres Jahrzehnt zurückgehen, können wenige Schweizer jemals den Mord und Selbstmord bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB, einer der größten Schweizer Banken) vergessen. Bankier Helmut B. ging eines Morgens in sein Büro am Zürcher Tessinerplatz und erschoss zwei Kollegen aus kürzester Entfernung mit seiner Armeepistole (ein dritter Kollege hatte das Glück, zu spät im Büro zu erscheinen). Dann erschoss er sich selbst.
Warum diese Suizide, begangen von Führungskräften, die alles zu haben schienen: Reichtum, Macht, Prominenz und den Komfort, in der Schweiz zu leben, dem Land mit der vielleicht höchsten Lebensqualität—und laut dem 2015 World Happiness Index dem glücklichsten Land der Welt? Warum?
Wir werden es nie endgültig wissen. Aber eine Sache scheint klar: Keiner dieser Manager kommunizierte den enormen, möglicherweise übermenschlichen Druck, dem jeder von ihnen gegenüberstand. Sie alle standen mit dem Rücken zur Wand. Und niemand stand ihnen bei.
Nach dem Mord-Selbstmord im Jahr 2004 wurde der damalige Top-Manager der ZKB, Hans Vögeli, in einem Radio-Interview gefragt, ob in der Bank eine Kultur der Angst herrsche. Seine Antwort belehrte den Reporter eines Besseren: Wer bei der ZKB seine Leistung bringe, habe keine Entlassung zu befürchten.
Das ist genau der Punkt. Die Umkehrung des Satzes heißt nämlich: Wer die Leistung nicht immer bringt, hat durchaus etwas zu befürchten. Das ist Management durch Angst, wie ich es in einem damaligen Interview ausdrückte.
Und aus meiner eigenen Arbeit mit CEOs und Führungskräften weiß ich: Nur wenige, wenn überhaupt, haben Menschen um sich herum, denen sie genug vertrauen können, um offenzulegen, was wirklich in ihnen vorgeht—ob aus Angst, für verrückt gehalten zu werden (“Was hat er denn jetzt wieder geraucht?” “Hat sie ihre Medikamente nicht genommen?”) oder als dumm, inkompetent oder sonstwie führungsunfähig dazustehen. Und viele CEOs befürchten, dass alles, was sie sagen, im politischen und darwinistischen Umfeld eines Großunternehmens gegen sie verwendet werden könnte.
Doch ohne echte Kommunikation scheinen Herausforderungen in Arbeit und Leben oft unüberwindbar. Manche können gar um Leben oder Tod gehen. Als ich Communicate or Die schrieb, hatte ich keine Ahnung, dass der Buchtitel so schrecklich wahr werden und mir so nahe gehen würde.
Sind diese Männer unnötig gestorben, oder gibt es einen Silberstreifen am Horizont? Vielleicht trotz allem das Letztere: Offene, ehrliche und effektive Kommunikation hat die Macht, jedes Problem zu meistern. Es kann Gerichtsklagen, Scheidungen oder gescheiterte Fusionen verhindern, sogar Krieg. Und es kann Leben retten. Wie es Jack Welch gern ausdrückte: kommunizieren, kommunizieren, kommunizieren.
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