Das Jahr 2015 neigt sich dem Ende zu und wieder werde ich den Eindruck nicht los, dass gewisse Begriffe jedes Jahr aufs Neue als Allheilmittel angepriesen werden. Eines der am häufigsten auftretenden Schlagworte des Jahres 2015 im Bereich der produzierenden Wirtschaft war “Industrie 4.0”. Dahinter steckt nichts anderes als die Auswirkung der dritten Welle, der Informationskultur, auf die Prozesswelt der produzierenden Industrie.
Alles ist vernetzt, alle Produkte finden durch einen definierten Algorithmus ihren Weg durch die komplexe Produktionswelt und schließlich auch den Weg zum Kunden. Im Mittelpunkt dieser Bestrebungen stehen die effiziente Nutzung von Ressourcen und Zeit sowie eine Optimierung der Kosten. Auch die vermeintlichen Widersprüche zu früheren “Allheilmitteln“, wie etwa die Herangehensweise der “Lean-Methodik”, wird sehr oft kontrovers diskutiert. Doch so wie “Lean”, ein Begriff der eigentlich aus einem Missverständnis dreier MIT-Wissenschaftler entsprungen ist, ist auch
Industrie 4.0 ein weiterer Beitrag zur Entmündigung des Menschen und seiner Fähigkeit zum Denken und Handeln.
Seit vielen Jahrzehnten kann man beobachten, dass oftmals technische Lösungen, insbesondere IT-Entwicklungen, zu Selbstzwecken geworden sind. Gewisse Ideen und Maßnahmen, die eigentlich eine Verbesserung im Sinne der Kunden und/oder der Mitarbeiter versprechen, werden nicht umgesetzt, weil vorhandene Infrastrukturen dies nicht können oder der Aufwand, diesen die notwendigen Fähigkeiten beizubringen, zu kostenintensiv sind. Da die Systeme aber für teures Geld angeschafft wurden und diese dann auch effizient genutzt werden müssen, führt oftmals kein Weg daran vorbei. Die Folge ist, dass gute Ideen scheitern. Mitarbeiter, die diese Ideen hatten, sind demotiviert und werden schließlich abgehängt. Diese werden dann oftmals fälschlicherweise als so genannte “Minderleister” identifiziert und falls möglich “entsorgt”.
Der Grund, weshalb trotz dieser desaströsen Folgen Führungskräfte einseitig bei bestimmten Methoden und Technologien hängen bleiben, liegt an der Angst vor unternehmerischen Entscheidungen. Führungskräfte in vielen Unternehmen haben das selbstständige Denken verlernt oder trauen sich nicht, Entscheidungen zu treffen, die aus dem vorgegebenen und mitunter antiquierten kennzahlenbasierten Raster rausfallen. Denn solche Vorschläge sind meist nicht politisch oder nur mit viel Aufwand durchsetzbar und stören die vermeintliche Kontrolle des Gesamtsystems, welches auf eine mehr oder weniger große Menge an Kennzahlen reduziert wird.
Und genau hier setzt der Hype um Industrie 4.0 an. Es wird eine vollständige Kontrolle eines Gesamtsystems versprochen, das aus vielen einzelnen Unterstrukturen besteht. Alle Führungsebenen haben jederzeit einen direkten Zugriff auf die automatisiert generierten Zahlen, Daten und Fakten. Dies suggeriert eine vermeintliche Kontrolle, auf derer Grundlage sich wieder eine Vielzahl an brillanten Reportings erstellen lassen. Doch eben diese Kontrolle ist ein Trugschluss, denn die reale Welt hat mit vielen dieser Zahlen, die mitunter noch zielableitungsgerecht interpretiert und gefiltert werden, nicht viel gemein.
Die Lean-Methoden wurden und werden auch ähnlich missverstanden. Die Reduktion von Lean auf eine Methodik ist ein ähnlich großes Missverständnis, denn auch hier wird von Entscheidern unternehmerisches Denken nicht verlangt. Es wird alles auf eine reine Methodik, die es nach einer klar definierten Art und Weise zu “implementieren” gilt, abgearbeitet.
Auch bei Lean werden viele Kennzahlen verwendet, um eine vermeintliche Kontrolle zu suggerieren.
Selbst wenn einige beim Thema Lean mittlerweile von Kultur reden, so sind die resultierenden Schlussfolgerungen wieder rein methodisch und damit eben nicht das, was es sein sollte: Eine unternehmerische, verantwortliche Unternehmenskultur, in der man gemeinsam mit allen Stakeholder das gesamte Unternehmen langfristig weiterentwickelt.
[Dr. Mario Buchinger]
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